Ich bin nicht mein Vater

Am heutigen Tag ist es jetzt 19 Jahre her, dass mein Vater gestorben ist. Ich bin noch normal an die Arbeit gefahren. Dann kam der Anruf meiner Mutter. „Komm schnell nach Hause, ich glaub, Papa ist Tod.“ Sie wollte ihm noch die Tabletten geben, aber er schluckte nicht mehr, das Wasser lief wieder aus dem Mund und eine Handkontrolle machte schnell klar: Er hatte es geschafft.

Das mag jetzt für den ein oder anderen makaber klingen. Aber keine 4 Monate vorher, wurde er wie ein Baum aus dem Leben gefällt. Eine Routineuntersuchung der Schilddrüse, dann zum Nikolaustag die Gewissheit: Krebs. Mittlerweile hatten sich so viele Metastasen gebildet, dass man nicht mal mehr sagen konnte, welches der eigentliche Auslöser war.

Doch ich wusste es. Rund 5 Jahre vorher war mein Vater ins Krankenhaus gekommen. Ich hatte bemerkt, das er unkontrolliert Schmerzmittel nahm. Und auf einmal Kreislaufprobleme hatte. Kompletter Check im Krankenhaus. Da viel der Satz: „Ein kleiner Fleck an der Prostata“. Dabei beließ man es. Heute weiß ich, dass ich damals unwissend war und es nicht dabei belassen hätte sollen. Hätte man genauer untersucht, wäre… Ach, lassen wir das. Hätte, hätte Fahrradkette.

Ich bin halt nicht mein Vater. Das soll nun nicht despektierlich klingen, wie der ein oder andere vermuten würde. Es ist eine einfache Feststellung.

Mein Vater gehört zu der Generation, die noch den Krieg mitgemacht hat. Zum Ende des Zweiten Weltkrieges war er 15. Hätte der Krieg nur ein Jahr länger gedauert, wäre er nur ein Jahr früher geboren worden, dann hätte er in Kassel das deutsche Vaterland verteidigen müssen – wie so viele andere 16-jährige – und wäre vermutlich bei diesem Wahnwitzigen unterfangen umgekommen.

Mit der Kirche hatte er es nicht. Sein Vater – beziehungsweise mein Opa – war ein Erzbrauner. Wenn die Geschichten über ihm nur zur Hälfte stimmen, dann hätte der Typ mit dem komischen Schnauzbart entweder mild gelächelt oder wäre sogar noch errötet. Ich bin froh, dass ich diesen Mann nie kennenlernen musste.

Mein Opa hat die Familie gespaltet und war mit einer der Gründe, warum die Geschwister – also meines Onkels und Tanten – nicht gut miteinander konnten.

Eines Tages ging mein Opa auf meine Oma mit der Axt los. Mein Vater ging dazwischen und wurde vom Pastor getadelt. „Wenn Dein Vater… Dann ist das Gottes Wille.“ Ja, ne klar. Die Vorherrschaft des Mannes. Der Mann im Hause bestimmte. Und wenn der Mann im Hause gedenkt, seiner Ollen eine reinzuhauen, dann ist das sein gutes Recht. Ein Glück, dass wir aus diesem Mittelalter raus sind.

Später arbeitet mein Vater für den Herrn von Boyneburg im Forst als Rücker. Wenn im Wald die Bäume gefällt wurden, dann mussten die aus dem Wald auch rauskommen. Das ging früher nicht mit Maschinen, die den Wald zu einer Mondlandschaft verarbeitet haben, sondern mit Pferden. Und genau das war die Arbeit meines Altvorderen.

Er machte eine Lehre als Baumaschinenschlosser. Die sollte später nochmal nützlich sein.

Nach dem Krieg arbeitete er im Dienste der Besatzer quasi als eine Art Dorfpolizist. Wirklich gut war der Job sicher nicht, sicherlich auch nicht gut bezahlt, sonst wäre er nicht des Geldes wegen nach Setterich ins Bergwerk gegangen.

Emil Mayrisch. Das war seine Zeche. Und irgendwie lernte er meine Mutter kennen. Mit seinem Schwiegervater und Schwager in Spe zechte er so einige Nächte durch und kloppte Karten. Man verstand sich eben.

Dass die Reise wieder in die Heimat gehen sollte, war ihm glaube ich damals eher weniger klar.

Bis zum einen Bergwerksunglück. Ein Stollen stürzte hinter dem Trupp, zu dem mein Vater gehörte, ein. Die Männer waren eingeschlossen. Während man nach einem Weg zu den Verschüttet vermuteten suchte, suchten diese ihren Ausweg mit einer Untertagebahn durch eine frisch gemauerte Wand durch einen Seitenarm, der eigentlich stillgelegt werden sollte. Helden eben.

Nicht ganz. Meine Mutter wollte nicht mehr das er unter Tage geht. Sie hatte Angst, dass sein Grab irgendwann 600 m oder tiefer sein sollte. Bei der Masse an Fels und Stein wären ihre Gebete nicht mehr zu ihm durchgekommen. Verstehe ich voll und ganz.

Also wieder Richtung Osten. Eigentlich hatte er schon einen unterschriftsfertigen Vertrag bei Volkswagen in der Hand und hätte in oder um Baunatal landen sollen. Bis der Hilferuf seiner erkrankten Mutter kam, die immer noch im heimatlichen Wichmannshausen lebte.

Am Ende des Tages heuerte er beim großen Mähdräscher- und Traktorhersteller Massey Fergusson an und blieb hier.

Auch er hat seine Mutter an den Krebs verloren. Luftröhrenkrebs. Damals unbehandelbar. Meine Oma ist im wahrsten Sinne des Wortes irgendwann am Krebs erstickt. Jahre später, wäre dieser Krebs, genauso wie der meines Vaters heute – trotz der Metastasen – gut behandelbar gewesen.

Im Gegensatz zu meinem Opa hätte ich meine Oma gerne kennengelernt. Nach den Erzählungen soll sie die Güte in Person gewesen sein. Auch wenn sie nicht viel hatte und immer nur gerade so über die Runden kam, hat sie immer gerne geteilt, wenn man dafür etwas von der Wärme, die sie gab, zurückgegeben hat. Eine tolle Frau. Sie hätte sicher viel zu erzählen gehabt, und mich bestimmt über ein, zwei Geschichten aus der Jugendzeit meines Vaters aufgeklärt hat, wo ich zwei verschiedene Versionen gehört hab.

Einmal die meines Vaters, wo er sich selbst als fast schon legendärer Held darstellte und dann eben noch eine andere Version, die ich eigentlich fast noch lustiger finde und die meines Erachtens besser zu ihm gepasst hätte.

Er blieb in Eschwege. Massey Fergusson ging irgendwann aus Eschwege weg, aber so oft wie der Laden umbenannt wurde, er blieb da. Das hatte auch seinen Grund: Mich.

1973 wurde ich dann geboren. Mein Vater war schon 43 Jahre alt, wo er Vater wurde. Und ich muss sagen, er war ein guter Vater. Streng war er schon, aber man konnte viel Spaß mit ihm haben. Wir machten Fahrradtouren bis an die damaligen Zonengrenzer und beobachten dort Grenzer durchs Fernrohr. Wir bastelten zusammen im Keller… OK, ich gebe es zu. Er bastelte, ich guckte zu.

Ich glaube, wenn er eins nicht verwinden konnte, dann die Tatsache, dass ich nicht mal 10 % seines handwerklichen Geschicks geerbt habe. Der Sohn eines Handwerkers und dann null Interesse am selbigen. Irgendwann musste er es aber akzeptieren, dass ich kein Handwerker werden würde und ließ mich eine kaufmännische Handelsschule besuchen und später eine entsprechende Ausbildung machen.

Er verstand eigentlich auch nie, warum ich nie einen Führerschein machen wollte. Obwohl er hätte es eigentlich besser als ich verstehen müssen, gab er doch seinen Führerschein in den 60er Jahren wieder ab, weil ihm der Verkehr zu stressig wurde.

Gut, ich hab später dann doch den Führerschein gemacht, weil es eben nicht anders ging. Aber die Sache wollte er nicht verstehen.

Auch was die Politik betraf, hatten wir unterschiedliche Ansichten. Und da hat es bei so mancher Diskussion zwischen ihm und mir heftigst geknallt. Ich fluchte oftmals, dass ich doch nie so werden wollte wie mein Vater. Schon auch, weil er so tat, als hätte er mit dem Rauchen aufgehört, dabei ging er nur zum Rauchen in den Keller und glaubte ich rieche das nicht.

Am Ende war dieser starke, manchmal starrsinnige Mann zerbrechlich, wie hauchdünnes Porzellan. Ich kann mich noch daran erinnern, wie der wenige Wochen vor seinen Tod vor Schmerzen schrie, obwohl ich ihm kaum berührt hatte. Danach hatte ich Angst ihn anzufassen, bis er einen Tag bevor er starb, meine Hände nahm, mich ernst ansah und zu mir sagte: „Versprich mir eins! Pass auf mein Röschen auf.“

Röschen. Das war seine Frau und meine Mutter. Ein Versprechen, was ich ihm gerne erfüllt habe.

Ich hab kein handwerkliches Geschick, obwohl auch das besser geworden ist, wenn ich die Basteleien in den letzten Jahren, Wochen und Monaten so nehme. Ich habe meinen Führerschein. Meine Ansichten muss man nicht unter dem Schleier es Vergangenen legen.

Ich arbeite mittlerweile nicht mehr als Kaufmann, sondern in der IT-Branche. Und ich glaube, er wäre darüber stolz. Er hat sich zu seinen Lebzeiten immer, ob meiner Basteleien an Computern gewundert, was so möglich ist.

Nein, ich kann wirklich sagen: Ich bin nicht mein Vater.

Obwohl. Wir teilen den Humor und bringen andere gerne zum Lachen. Und wenn ich etwas von ihm geerbt habe, dass ich sehr berechnend bin, in dem, was ich mache, dadurch öfter mal länger brauche bis ich eine Entscheidung gefällt habe. Dafür ist diese dann äußerst begründet und in der Regel habe ich für den Fall, dass was schiefgeht, nicht nur einen Plan B, sondern meistens noch einen C- und D-Plan bereit.

Was Ziele angeht, sind wir beide ausdauernd. Des Öfteren geht man mal einen Umweg, aber angekommen sind wir noch immer. Der Weg ist manchmal eben das Ziel.

Wenn ich es mir am Ende des Tages richtig überlege, habe ich doch mehr von meinem Vater als einem manchmal bewusst ist. Aber ich habe das Gefühl, dass ich die richtigen Sachen von ihm abbekommen habe, bis auf eine…

Er konnte essen, was er wollte. Er hat einfach nicht zugenommen. Schnitzelabend mit 5 Schnitzel und er drei Tage später auf der Waage, das Gewicht war dasselbe wie eine Woche zuvor. Bei mir ist es, dass jemand anderes in meiner Nähe von Essen redet und ich nehme davon zu.

Im Garten, auf dem alten Baumstumpf einer Fichte, steht wieder eine Laterne seit dem Morgengrauen. Der Stumpen wird sicherlich noch bis tief in die Nacht sein kleines Licht ausstrahlen. Und ich bin ehrlich, bei all den Differenzen und Unterschieden, war es viel zu früh, dass er gegangen ist. Auch wenn er mit 73 Jahren ein hohes Alter erreicht hatte.

Ich wäre froh gewesen, wenn ich nicht so früh der Mann im Hause hätte sein gemusst hätte. Obwohl, vielleicht wäre ich dann nicht der, der ich heute bin: Ich bin zwar nicht mein Vater, aber der Sohn eines Mannes, der im Leben viel geschafft und erlebt hat und der beste Vater der Welt war. Aber das sehen vermutlich die meisten Töchter und Söhne bei ihrem Vater so.

Foto: Norbert Beck / Beitragsbild-Layout: canva PRO und Norbert Beck

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